Selbstbestimmt und ohne Scham

Nadya Moussa

Blinden und Sehbeeinträchtigen wird oft ihre Unabhängigkeit abgesprochen. Meist ohne dass sie jemand gefragt hätte. Vielleicht ist es die Annahme, dass die meisten Menschen diese Welt sehend begreifen. Vielleicht ist es aber auch nur ein Vorurteil. Doch Vorurteile bringen niemanden weiter. Und manchmal sind es die Sehenden, die einer neuen Perspektive bedürfen.

Togo ist ein sehr kleines, sich längs nach Norden hinstreckendes Land in Westafrika. Keine acht Millionen Einwohner zählt es, von denen allein in der Hauptstadt Lomé etwas über eine Millionen leben. Im recht zentral gelegenen Sokodé finanziert muslimehelfen seit 2010 Blindenhilfeprojekte. Damals wurde noch ein Gebäude angemietet, das allerdings schnell zu klein geworden war. Ein neues Gebäude war notwendig geworden.

Togo: Der Eingang des Blindenzentrums in Kadambara.

Am 21. Dezember 2013 war es dann alhamdulillah so weit: Das Centre Islamique pour l´Education et la Formation des Personnes Aveugles, wie das Blindenzentrum offiziell heißt, wurde in Kadambara feierlich eröffnet. Kadambara ist ein Dorf, vier Kilometer östlich von Sokodé gelegen. Viele der übrigen Einwohner sind Bauern. Das drei Hektar große Stück Land hat die Gemeinde zur Bebauung gestiftet. Selbstverständlich ist diese Großzügigkeit bei Weitem nicht. Blinde und Sehbeeinträchtigte gelten in Togo als Last nicht nur für die Familie, sondern auch für die Gesellschaft an sich. Da bereits viele Kinder nicht sehen können, bleiben sie der Schule fern. Ersatz gibt es kaum. Doch ohne Schulbildung ist keine Ausbildung, kein Beruf möglich. Der Weg in die Abhängigkeit von Mitgefühl und Mitleid anderer ist praktisch unausweichlich, oder um es einfacher zu sagen: Wer blind ist, muss betteln. Kinder aus bedürftigen und von Armut bedrohten Familien haben keine Möglichkeit diesem Schicksal zu entfliehen. Nur wenige, die, die Glück haben, schaffen es dennoch. Doch dank der unermüdlichen Arbeit unserer Partnerorganisation, die über Bekannte und Freunde bei den Medien, in der Lokalpolitik und bei muslimischen Einrichtungen stets über ihre Bemühungen und ihre Erfolge informieren und zeigen, dass Fleiß und Wissenserwerb nicht an die Fähigkeit zu sehen gebunden sind, hat sich das Bild der Blinden, das in vielen Köpfen vorhanden war, gewandelt. Ganz langsam, aber mit stetigem Erfolg wird Blindheit anders wahrgenommen. Sie mag ein Hindernis sein, aber noch lange kein Hinderungsgrund.

Togo: Die Schüler bearbeiten den Garten selbst, so lernen sie gleich neue Fähigkeiten dazu.

Ein Sprichwort sagt, man sieht nur mit dem Herzen gut. Blindheit, was ist das also? Banal ausgedrückt, ist Blindheit die Unfähigkeit zu sehen. Sie hat viele Gründe. Sie kann im Alter auftreten, als sogenannte altersbedingte Makuladegeneration, das klingt sehr wissenschaftlich, meint aber die Beeinträchtigung der Sehzellen in der hinteren Netzhaut des Auges, der Makula, über die wir Farben erkennen und scharf sehen können. Schon Kleinkinder können erblinden, in Entwicklungsländern ist vor allem Mangelernährung ein Grund dafür, beispielsweise wenn zu wenig Vitamin A aufgenommen wird. Weitere häufige Erkrankungen der Augen sind grauer Star (Katarakt) und grüner Star, auch Glaukom genannt. Diese Erkrankungen sind nicht auf ein geographisches Gebiet beschränkt. In Wohlstandsgesellschaften können sie aber zumindest untersucht und bei Früherkennen gut behandelt werden. Mit der Onchozerkose, auch Onchocerciasis genannt, die im Volksmund eher als Flussblindheit bekannt ist, verhält es sich ein wenig anders.

Die Flussblindheit ist eine Infektionskrankheit, die vor allem in Zentral- und Südamerika, sowie in West- und Zentralafrika vorkommt. Übertragen wird sie durch Kriebelmücken, deren harmlose Variante auch hierzulande verbreitet ist. Kriebelmücken dienen den Larven von Fadenwürmern – der lateinische Fachbegriff lautet Onchocerca volvulus, der Namensgeber für diese Infektion ist – als sogenannte Zwischenwirte. Die Mücken nehmen durch ihren Biss eine oder mehrere Larven unbemerkt aus dem Menschen, den sie beißen, auf. Die Larve bleibt entweder im Körper der Kriebelmücke oder wandert bei einem nächsten Biss in den Körper eines anderen Menschen. Dort kann sie in das Auge des Betroffenen gelangen und zu Schäden der Augenkammer bis hin zur Erblindung führen. Besonders gefährdet sind Menschen, die an schnell-strömenden Flüssen siedeln, weil die Mücken dort leben.

Blindheit kann, muss aber kein Hindernis darstellen, wie die Jungen und Mädchen im Blindenzentrum in Kadambara beweisen. Das Zentrum ist nicht ein Gebäudekomplex, sondern besteht aus mehreren kleinen Einzelgebäuden. Die Mitte der Gebäude ziert ein halboffener Rundbau, an deren Innenseite Holzbänke entlang führen. Auf die übrigen Häuschen sind die acht Schlafräume, acht Unterrichtszimmer, Toiletten und Duschen verteilt. Hinzu kommen zwei Wohnungen für Lehrer und Betreuer. Das Zentrum ist mit einer Solaranlage ausgestattet, außerdem verfügt es über einen Generator und eine eigene Getreidemühle. In der Mühle wird Korn nicht nur für den Eigenbedarf zu Mehl gemahlen, auch die Bauern lassen ihr Getreide dort gegen einen kleinen Aufpreis mahlen.

Das Blindenzentrum war zwar bereits 2013 bezugsfertig und ist seitdem in Betrieb, aber bis ins Jahr 2017 hinein wurde noch gebaut und gepflanzt, weil sich herausgestellt hatte, dass Änderungen nötig waren. Im Frühjahr 2016 beispielsweise konnte die Sicherungsmauer fertiggestellt werden. Bis dahin war das Gelände offen und Tiere, vornehmlich Hühner, Ziegen, Schafe und Rinder, liefen ungezwungen und frei zwischen den Gebäuden umher, aber auch den benachbarten Bauern diente ein Gang über das Gelände als Abkürzung zu ihren Feldern. Da die Schüler aber nicht sehen können, wer und ob jemand vor ihnen steht, haben sie sich gefürchtet und um eine Mauer gebeten.

Ende 2016 folgte dann ein Lehrgarten, der auf dem Areal des Blindenzentrums angelegt wurde. Dort lernen die Schüler, Gemüse zu ziehen. Neben Gombo, einem Gemüse, das Okraschoten ähnelt, werden auch Gboma, auch afrikanische Aubergine genannt, Kohl, Salat, Paprika und Tomaten angebaut. Teile des Anbaus werden auch auf dem Markt verkauft.

Das Gelände des Blindenzentrums war bis Ende letzten Jahres mit Gras bewachsen. In der Regenzeit aber war es dort zu kleinen Überschwemmungen gekommen. Weil es in kurzer Zeit recht viel geregnet hatte, konnten die angesammelten Wassermassen nicht abfließen. Während dieser Zeit waren die Schüler und Schüler-innen daher einige Tage an das Haus gebunden, weil sie nicht vor die Tür konnten. Um vor allem die Kinder zu schützen und das Gehen zwischen den einzelnen Gebäuden zu erleichtern, wurden Gehwege angelegt und Abflüsse in die Bahnen eingebaut, damit das Regenwasser ungehindert abfließen kann und sich keine größeren Pfützen bilden können. Die Gehwege sind aus Pflastersteinen gelegt, die von niedrigen Kanten umgeben sind, damit die blinden Schüler und Lehrer merken, wo der Gehweg beginnt beziehungsweise aufhört und die ungepflasterte Grasfläche beginnt. Zwischen den Gehwegen und den Hausaußenwänden wurden frisches Gras und stellenweise auch Sträucher und Nadelbäume gepflanzt.

Auf speziellen Wunsch der Kinder wurde eine Kantine errichtet und im Ramadan feierlich eröffnet. Sie besteht aus einer kleinen Küche mit Durchreiche, an die sich ein Speiseraum anschließt. Bis vor der Fertigstellung wurde im Freien gekocht und gegessen.

Ebenfalls im Ramadan wurde die vorerst letzte Baumaßnahme fertiggestellt: ein Ziegenstall, in dem nun zehn Ziegen unterstehen. Die Tiere dienen als Grundstock für eine Ziegenzucht, an denen die Jungen und Mädchen lernen sollen.

Im Blindenzentrum lernen derzeit fünfundzwanzig Kinder und Jugendliche. Der Unterricht findet in Braille, der Blindenschrift statt. Dazu werden Punktschrifttafeln und Griffel benutzt. Der Lehrplan ist derselbe wie an öffentlichen, staatlichen Schulen. Viele der Schüler leben in der Woche im Blindenzentrum, nur für das Wochenende kehren sie zu ihren Familien zurück. Wenn sie mit ihrer Schulausbildung fertig sind, steht ihnen inschallah ein Teil dieser, uns bekannten Welt offen.

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