Nachdenken über Gerechtigkeit

Ahmad von Denffer

Fast wöchentlich hören wir, wie wichtig die Gerechtigkeit ist, denn in vielen Moscheen wird beim Freitagsgottesdienst üblicherweise der Koranvers verlesen: „Allah trägt ja die Gerechtigkeit auf und das Gute tun und das Geben an die Verwandten, und Er untersagt das Abscheuliche und das Verwerfliche und die Gewalttätigkeit, Er ermahnt euch, damit ihr euch vielleicht erinnert.“ (16:90)
Gehört haben wir dies also  – aber haben wir auch verstanden, haben wir darüber nachgedacht, was gemeint ist, was Gerechtigkeit eigentlich bedeutet?
Am deutschen Wort ist leicht erkennbar, dass Gerechtigkeit mit „Recht“ zusammenhängt. Recht wiederum steht in Verbindung mit „richtig“, aber auch „aufrecht“, d.h. geradestehend und geradestellen, darüber hinaus mit „regieren“, d.h. leiten, lenken und sogar mit „rechnen“. Letzteres soll ursprünglich bedeutet haben „ordentlich machen, in Ordnung bringen“, was in Ausdrücken wie „abrechnen“ oder „Rechenschaft ablegen“ noch nachklingt. Wie auch immer, allgemein verständlich ist es wohl zu sagen: Gerechtigkeit herstellen bedeutet, etwas, das nicht in Ordnung ist,  in Ordnung bringen.

Das Wort, das wir im Deutschen mit Gerechtigkeit wiedergeben, lautet im Koran ‘adl. Ganz eng verwandt ist damit das Wort ‘idl, das bei genauer Betrachtung zum besseren Verständnis von ‘adl verhilft. Zunächst bedeutet ‘idl einfach „Sack“, also ein Behältnis, in dem etwas aufbewahrt oder transportiert wird. Darüber hinaus bezeichnet es „eine halbe Last“, und damit ist die Last gemeint, die dem Tragtier auf der einen Seite aufgeladen wird, und die mit einer weiteren halben Last auf der anderen Seite vervollständigt werden muss.

Das Gegenteil von Gerechtigkeit ist Ungerechtigkeit, im Arabischen dsulm. Dieser Ausdruck bedeutet auch Unrecht, Unterdrückung und Tyrannei. Ein Sprichwort lässt gut erkennen, worum es geht: Wer den Wolf als Hirten will, hat unrecht, hat falsch gehandelt, eigentlich: hat – den Wolf – an den falschen Platz gesetzt. Unrecht – dsulm ist demnach, wenn etwas nicht richtig gemacht wird, nicht am richtigen Platz ist.

Hieran lässt sich etwas sehr Bedeutsames ablesen: Wenn man die Lasten nicht richtig auflädt – d.h. auf beide Seiten richtig verteilt – kann das Tragtier nicht ohne Schwierigkeiten laufen oder, wenn es ein Kamel ist, vielleicht erst gar nicht aufstehen, und das wiederum bedeutet, dass man nicht leicht oder vielleicht auch gar nicht vorankommt. Die Lasten dürfen nicht am falschen Platz, sondern müssen am richtigen Platz sein. Beim arabischen Wort ‘adl wird man also an so etwas wie „Ausgewogenheit“ erinnert, an Gleichgewicht und Balance, die zum Fortkommen notwendig sind. Gerechtigkeit im Sinn von ‘adl ist Voraussetzung für Stabilität und Erfolg. Ohne gerechte Lastenverteilung lässt sich nichts erfolgreich bewegen, kann es nicht wirklich weitergehen und das Ziel der Reise nicht erreicht werden.

Dieses Prinzip ist auch bei der sogenannten „Armensteuer“, der Zakat, erkennbar, die bekanntlich zu den fünf Grundpfeilern des Islam zählt. Eine ihrer bedeutsamsten Wirkungen besteht darin, die Ungleichgewichtungen auszugleichen, die in der Gesellschaft bestehen und entstehen. Die Menschen sind nicht alle gleich. Manche sind mehr und andere weniger fähig zum Erwerb der materiellen Dinge oder interessiert daran, doch alle Menschen haben Grundbedürfnisse, die erfüllt sein müssen, damit ihr friedliches Zusammenleben möglich ist. Die Ungleichheiten zumindest im Hinblick auf die Stillung dieser Grundbedürfnisse auszugleichen, ist mit dem alljährlichen Entrichten der Zakat, der „Armensteuer“, möglich. Für den Wohlhabenden ist das Entrichten der Zakat eine Pflicht, für den Bedürftigen dagegen ist das Empfangen der Zakat ein Recht. Seien wir also dankbar dafür, dass wir diese Möglichkeit zum Ausgleich haben, und tun wir über die Erfüllung unserer Pflicht hinaus noch Gutes, wie es im obigen Koranvers aufgetragen wird. Und welche Zeit wäre besser dafür als der Fastenmonat Ramadan?

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